Bald 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland…aber ist das genug?

Zum Sinn und Unsinn von Wahlen
Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland war ein Weg voller Widerstände und Auseinandersetzungen. Stück für Stück und mit Rückschlägen mussten die Teilhabe von Frauen in der Politik und ihr eigenes Stimmrecht erkämpft und etabliert werden. Die Einführung des Frauenwahlrechts ist jetzt fast 100 Jahre her und dennoch sind die Kämpfe der Frauen bisher nicht abgeschlossen. Auch viele andere Menschen wie beispielsweise Geflüchtete ringen permanent um die Anerkennung ihrer Rechte und um ein allgemeines Mitbestimmungsrecht. An dieser Stelle soll mit Blick auf die Geschichte geschaut werden, inwiefern der Fokus auf gesetzliche Beteiligungsstrukturen wie Wahlen noch sinnvoll ist, oder ob sich andere Wege finden müssen, um eine befreite Gesellschaft zu verwirklichen.

Die Rebellion ist eine Frau…
Schon in der Zeit vor 1850 gab es konkrete Regeln und Gesetze, bei denen Frauen bewusst von bestimmten Positionen und Ämtern ausgeschlossen wurden. So wurde Frauen beispielsweise die Mitgliedschaft in Vereinen und Verbänden per Gesetz verwehrt, um die politische Vormachtstellung der Männer nicht zu gefährden. Gerade in Sitzungen und Versammlungen von Vereinen, die ausdrücklich politischer Natur waren, durften Frauen nicht beiwohnen. Es wurden alle Teilnehmer außerdem dazu angehalten, Frauen rigoros zu entfernen, wenn diese es wagten, an einer solchen Versammlung teilzunehmen. 
Zwar gab es bis dato bereits Versuche von Einzelpersonen, ihren Wunsch auf eigene Rechte durchzusetzen, doch fehlte lange Zeit ein solidarisches Bewusstsein für diesen gesetzlichen und gesellschaftlichen Ausschlussmechanismus. Dies änderte sich im großen Rahmen erst um 1850 herum, als das aktive Zusammenschließen in Frauenvereinen oder das Herausgeben von Frauenzeitschriften erstmals ein kollektives Bewusstsein über die eigene Lage hinaus förderten.
Mit Ende des 19. Jahrhunderts konnten erste sichtbare Erfolge erzielt werden. Die Sozialistin Lily Braun forderte auf einer öffentlichen Volksversammlung, dass es an der Zeit wäre, dass die allgemeinen Menschenrechte nun auch endlich für die andere Hälfte der Menschheit gelten müsse, nämlich die Frauen. 
Erst 1902 gab es in Hamburg einen „Verein für Frauenstimmrecht“, der durch die Aktivistinnen Lida G. Heymann, Anita Augsburg und Minna Cauer gegründet wurde. Dies war nur möglich, da in Hamburg eine etwas liberalere Vereinspolitik galt. Kurz danach wurde das preußische Vereinsrecht etwas gelockert. So war es Frauen nun möglich, an politischen Veranstaltungen von Vereinen und Parteien teilzunehmen, allerdings wurden sie mithilfe eines Absperrbandes von den Männern getrennt und durften nur zuhören, aber sich nicht äußern oder einbringen.
Zwei Jahre später wurde der „Weltbund für Frauenstimmrecht“ gegründet, bei dessen Gründungsversammlung Frauen aus mehr als acht Ländern teilnahmen. Hier wurde der Kampf um ein Stimmrecht erstmals im großen Rahmen auf internationale Füße gestellt. 1908 wurde das Preußische Wahlrecht aufgehoben und Frauen war es nun möglich, Mitglied in Parteien und Organisationen zu werden, die sich politischen Themen annahmen.
Dieser Aspekt stärkte auch die Kämpfe der Frauen um Mitbestimmung und Gleichberechtigung. Insgesamt gründeten sich in Deutschland allein drei Vereine, deren Hauptaugenmerk auf dem Frauenstimmrecht lag. Diese schlossen sich 1917 zu dem „Deutschen Verband für Frauenstimmrecht“ zusammen. 1918 lehnte das preußische Abgeordnetenhaus das Wahlrecht für Frauen jedoch ab.
Erst beim Ausruf der Deutschen Republik im Herbst 1918 schien man der Realisierung des Frauenwahlrechts ein Stück näher zu sein. Das Frauenstimmrecht war ein wichtiger Bestandteil bei der Ausrufung und wurde am 30. November 1918 verankert, so dass alle Frauen und Männer ab 20 Jahren nun ein aktives und passives Wahlrecht besaßen.
Dies war die Realisierung eines langen Kampfes, bei dem Frauen wie Clara Zetkin und Rosa Luxemburg auch nicht vergessen werden dürfen. 
Am 19. Januar 1919 konnten die Frauen ihr aktives Wahlrecht bei der Deutschen Nationalversammlung erstmals nutzen. 82% aller wahlberechtigten Frauen nutzten ihr Stimmrecht und insgesamt 37 weibliche Abgeordnete zogen ins Parlament ein. Als erste Frau in einem deutschen Parlament spricht dann schließlich am 19. Februar 1919 Marie Juchacz aus Berlin, einst Dienstmädchen, Krankenwärterin, Schneiderin, seit 1905 aktive Sozialdemokratin: »Ich möchte hier feststellen …, daß wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.«

Ein Schritt nach vorn und drei zurück
Das Glück um die errungenen Rechte währte nicht lange. Bereits 1921 hatte sich die NSDAP darauf verständigt, dass Frauen weder in die Parteiführung noch in ihren “leitenden Ausschuss” aufgenommen werden sollen. Nach dem Machtantritt 1933 wurden mehrere Gesetze verabschiedet, die Frauen aus den gehobenen Berufen verdrängten, Anreize für das Aufgeben der Erwerbsarbeit zu Gunsten einer Tätigkeit als Hausfrau und Mutter setzten sowie Frauen das passive Wahlrecht wieder entzogen.
Die Errungenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren mit dem Einhalt des Faschismus in Deutschland wieder passé. Erst nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde in beiden deutschen Staaten das Gleichberechtigungsprinzip – und damit auch wieder das aktive und passive Wahlrecht – im Grundgesetz verankert. Doch auch dies führte längst nicht zu einer vollkommenen Gleichberechtigung der Frauen. So hatten Ehemänner in Westdeutschland noch lange Zeit Entscheidungsbefugnis darüber, ob ihre Frauen eine Arbeit aufnehmen dürfen.

Ein Blick auf das Hier und Jetzt
Auch heute werden noch Kämpfe um Gleichberechtigung und Gleichstellung an verschiedenen nationalen und internationalen Schauplätzen der Gesellschaft geführt. Frauen stehen weiterhin für ihre umfassende Teilhabe ein, so dass der internationale Frauenkampftag am 8. März nach wie vor aktuell ist. Die Initiative zum Internationalen Frauentag kam von Clara Zetkin, die einen entsprechenden Antrag bei der II. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen im Jahr 1910 eingebracht hatte. Dieser Tag wird seit Jahrzehnten vor allem von autonomen und linksradikalen Frauen in ihrer kämpferischen Tradition fortgesetzt, um auf aktuelle vorhandene Missstände aufmerksam zu machen und an die Solidarität im gemeinsamen Kampf sowie die Fähigkeit, Dinge zu verändern, zu erinnern.

Über den Tellerrand
Genau diese Kraft der Solidarität lässt sich auf weitere Aspekte der Gesellschaft anwenden. So sind aktuell Geflüchtete eine Gruppe, denen mit großem politischen Aufwand die gesellschaftliche Teilhabe und eigene Mitbestimmung verwehrt wird. Am 4. September findet die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern statt. Dabei missbrauchen die zur Wahl aufgestellten Parteien die Themen „Migration und Flucht“ für ihre eigenen Wahlkampfzwecke. So versuchen sich die Mainstreamparteien in ihrer Härte bei potentiellen Gesetzesentwürfen zu Asylanträgen und Abschiebungen gegenseitig zu übertrumpfen. Dabei versuchen Worte wie „humane Abschiebung“ die menschenunwürdigen Bedingungen bei Zwangsausreisen wie beispielsweise Isolationshaft und gewaltsame Knebelungen sowie Inhaftierungen nur zu verschleiern. Die Geflüchteten haben hierbei per Gesetz keine Möglichkeit, ihre Stimme zu erheben. Wahlkampf wird über sie gemacht, aber nicht mit ihnen. Dies zeigt einmal mehr, dass eine kritische Auseinandersetzung mit Wahlen mehr als notwendig ist.

„Wer die Wahl hat, wählt die Qual“
Eine gesetzlich verankerte Gleichberechtigung zur Mitbestimmung klingt per se erst mal gut. Allerdings zeigt die Geschichte einmal mehr, dass Wahlen eine Akzeptanzbeschaffung für ein System sind, bei der tatsächliche und reale Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten kaum vorhanden sind. Wahlen werden stets als fruchtbarstes Mittel für die Demokratie hochgehalten, bei der Mitbestimmung mit Selbstverwirklichung einhergehen soll. Für uns ist es wichtig, dieses beschönigende Bild angesichts der bevorstehenden Wahlen zu demaskieren und die Diskussion darüber wieder zu eröffnen. Das Frauenwahlrecht ist seit fast 100 Jahren erkämpft und dennoch bleibt ein Ungleichgewicht in der Gesellschaft, in der das Patriarchat mal mehr mal mal weniger, aber immer wieder als Maßgabe genommen wird. Parteien wie die AfD, NPD und CDU ziehen mit Forderungen nach einem konservativen und diskriminierenden althergebrachten Frauenbild und einer nationalen und traditionellen Familienpolitik in den Wahlkampf. Dies zeigt deutlich, dass die Erkämpfung des Wahlrechts allein nicht in der Lage ist, Ungleichheiten und Diskriminierung zu beenden.

Es gibt kein richtiges Wählen im Falschen
Zu sagen bleibt, dass mit Blick auf Jahrzehnte von Wahlen, die Wünsche und Meinungen der Menschen damit nicht mehr ausreichend abgebildet werden. Die Wahlbeteiligung ist gering, was verschiedene Ursachen hat. Zum einen aus Desinteresse und zum anderen finden sich Wähler_innen in den aufgestellten Parteien nicht wieder. Weiterhin sind verschiedene Gruppen von Menschen wie beispielsweise Geflüchtete, Obdachlose und Gefangene von Wahlen ausgeschlossen. 
Man könnte meinen, dies seien genug Gründe, um das vorhandene Konstrukt von Wahlen und Parlamentarismus zu überdenken und zu verändern. Allerdings werden diese Umstände von den vorhandenen Parteien so gut wie nicht aufgegriffen und scheinen nicht wichtig. Auch ein bewusstes Ungültigmachen der Wahlzettel durch die Wähler_innenschaft erzeugt keine Reaktion. Zu sehr wird sich auf den einmal entwickelten Beteiligungsapparat ausgeruht, um den eigenen Einfluss auszubauen. 
Dies zeigt einmal mehr, in welchem System wir uns befinden. Die Parteienlandschaft ist auf den Kapitalismus ausgerichtet.
Wahlkampf heißt hier Wirtschaften und die eigene Geldmaschine ankurbeln, um Einfluss zu gewinnen. Deutlich wird dieser Umstand in der vorhandenen parlamentarischen Demokratie. Bei Wahlen werden stets und ständig Kompromisse eingegangen, die mit den ursprünglichen Wahlversprechen im Ansatz nichts mehr zu tun haben. Je nach Koalition verändern sich die Wege und Ziele der Parteien, indem häufig fragwürdige Vereinbarungen getroffen und durchgesetzt werden. Hierbei stellt sich uns die Frage, wie es überhaupt möglich sein soll, die eigenen Meinungen und Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft in einer Partei wieder zu finden? 
Der einzige Grund, warum sich dieses Konzept weiterhin hält, ist dadurch selbst Verantwortung abgeben zu können und sich somit nicht unmittelbar selbst mit politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen auseinandersetzen zu müssen. Ein Rückzug ins eigene Wohnzimmer wird dadurch möglich. Die Bereitschaft für Protest und Streik, für ein solidarisches Miteinander ist in unserer Gesellschaft auf ein Minimum geschrumpft. Menschen sehen häufig nur ihre individuelle Lage und führen diese auf die noch Benachteiligteren zurück. Protestbewegungen wie MVgida finden an dieser Stelle mit ihrer menschenverachtenden Propaganda und Hetze genau dort Gehör.Anstatt die wirklichen Hintergründe für die eigenen Problemlagen zu erkennen, wird nach Unten getreten und nach einem vermeintlichen Schuldigen gesucht.

Deswegen kann es für uns keine Alternative sein, das bestehende Wahlsystem zu unterstützen, indem die am wenigsten rassistische und menschenverachtende Partei gewählt wird. Die Wahlen, wie sie bestehen, sind nicht Lösung, sondern Teil des Problems. 
Anstatt Ausgrenzungsmechanismen zu bedienen, fordern wir einen emanzipatorischen Ansatz, in dem alle Menschen die gleichen politischen und sozialen Teilhabemöglichkeiten nutzen können.

Unsere Antwort: Solidarität!