Aufgrund einer rigiden Sparpolitik der Landesregierung über viele Jahre hinweg ist in weiten Teilen die öffentliche Daseinsvorsorge nur noch auf minimalem Niveau vorhanden. Hochverschuldete Kommunen, die teilweise schon ab Mitte des Jahres einen Ausgabenstopp verhängen, sind an der Tagesordnung. Gleichzeitig vergrößert sich auch die Armut zunehmend. Denn gerade die beiden großen wirtschaftlichen Standbeine in MV, Tourismus und Gesundheitswesen, sind klassische Niedriglohnsektoren. Niedrige Arbeitsstandards und Löhne garantieren einen höheren Mehrwert, der auf Kosten der Beschäftigten erwirtschaftet wird.
Im Januar 2016 lag die Arbeitslosenquote in Mecklenburg-Vorpommern bei 11,5% und damit weit über dem bundesweiten Durchschnitt. Selbst die Menschen, die Lohnarbeit haben, beziehen nur ein sehr geringes Einkommen. Viele arbeiten im Niedriglohnbereich für kaum mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 € brutto die Stunde, als geringfügig Beschäftigte, bei Leiharbeitsfirmen oder als (Schein-)Selbstständige.
So ist es nicht weiter verwunderlich, dass rund ein Viertel der Bevölkerung in MV mit einem Einkommen unterhalb der relativen Armutsgrenze leben muss. Das bedeutet für die Betroffenen nicht einfach nur, dass sie kein Geld haben, sondern dass sie dadurch vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden. Politiker_innen der SPD versuchen diese Zahlen zu relativieren, indem sie beharrlich auf das West-Ost Lohngefälle hinweisen. Nach Bereinigung dieser Diskrepanz läge der von Armut betroffene Bevölkerungsanteil allerdings noch immer bei gut 13%.
In MV gibt es bei der Armutsfrage ein Stadt-Land-Gefälle, was sich besonders in einem Vergleich von West- zu Ost-MV bzw. von Mecklenburg zu Vorpommern aufzeigen lässt. Vergleicht man beispielsweise die Kinderarmut zwischen den Regionen Nordwestmecklenburg und Uecker-Randow, ergibt sich eine klares Bild der Ungleichverteilung. Im Vergleich aller Regionen gilt Vorpommern als das Gebiet mit der größten Armutsrate in Deutschland, dort sind 27,8 % der Menschen arm.
Die Lebenslage vieler Menschen in MV muss daher insgesamt als prekär betrachtet werden. Aber was bedeutet eigentlich prekär?
Vereinfacht könnte Prekarität als soziale Unsicherheit durch unbeständige Arbeitsverhältnisse definiert werden. Ausgangspunkt ist eine Veränderung des Arbeitsmarktes in Zeiten des Neoliberalismus. Die Globalisierung der Arbeitswelt hat den falschen sozialpartnerschaftlichen Frieden zwischen Arbeitgeber_innen und Gewerkschaften ins Wanken gebracht und in vielen Teilen ausgehebelt. Um im internationalen Wettbewerb flexibel und konkurrenzfähig zu bleiben, musste auch die Arbeitswelt flexibler gestaltet werden. Flexibilität bezieht sich hierbei jedoch nicht nur auf den Aspekt der Zeitgestaltung von Lohnarbeit, sondern meint noch viel grundlegendere Bedingungen wie Lohndumping, Missachtung von Arbeitsrechten und -schutzregelungen, Einschüchterung und Behinderung von gewerkschaftlicher Betriebsarbeit. Nicht zu verschweigen ist allerdings, dass auch Gewerkschaften ihren Anteil an der Prekarisierung der Arbeitswelt haben. Unter dem Druck der Standortsicherung haben Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen. Darin sind oft Sonderregelungen bzw. Sondertarife für unterschiedliche Beschäftigungsgruppen enthalten, d. h. Menschen arbeiten in Betrieben zusammen, machen unter Umständen die gleiche Lohnarbeit, werden aber aufgrund unterschiedlicher Tarifzugehörigkeiten unterschiedlich entlohnt. Somit werden Beschäftigungsgruppen gegeneinander ausgespielt.
Doch ist Prekarität jetzt wirklich ein neues Phänomen?
Wohl kaum. In kapitalistischen Gesellschaften gab es nie und wird es nie eine Garantie auf Lohnarbeit und Existenzsicherung geben. Dennoch hat mit dem Neoliberalismus eine starke Deregulierung eingesetzt, die die Prekarität weiter verschärft hat und noch weiter verschärfen wird. Denn Kapitalismus ist ein System, das Reichtum in der Hand von wenigen dadurch erzeugt, dass Lohnarbeit an Standorte ausgelagert werden kann, an denen billiger und zu geringeren Sozialstandards produziert werden kann.
Völlig ausgeblendet wird dabei die Reproduktionsarbeit, sei es die häusliche Reproduktionsarbeit, die Pflege von Angehörigen, oder die Kindererziehung. Hier tut sich ein gesellschaftlicher Zustand auf, der Arbeit nur im Sinne kapitalistischer Verwertung versteht und einfordert. Die Bereiche der Reproduktion werden dabei immer noch hauptsächlich von Frauen*1 übernommen, welche dafür kaum oder gar keine Entlohnung oder Wertschätzung erhalten. Dadurch sind Frauen* besonders stark dem Risiko ausgesetzt, in prekäre Lebensverhältnisse oder Armut zu geraten. Zusätzlich besteht in einer partnerschaftlichen Beziehung häufig eine ökonomische Abhängigkeit von einem Mann* durch die vorherrschenden patriarchalen Geschlechterrollen.
All diese Mechanismen führen dazu, dass Menschen immer häufiger in Konkurrenzdenken getrieben werden, so dass sich Verteilungskämpfe um rare Arbeitsplätze zwischen Mittel- und Unterschicht entwickeln. Menschen werden auf den Ämtern gegängelt, die Unsicherheit der Arbeitswelt überträgt sich auf die Lebensverhältnisse. Dass ein Leben in Freiheit und Würde durch zunehmende Prekarisierung verunmöglicht wird, führt daher zur immer dringenderen Frage:
Geht es auch anders?
Wir glauben, dass eine andere Organisierung und Strukturierung von Arbeits- und Lebenswelt möglich und dringend notwendig ist. In dem dargestellten Kontext wird deutlich, dass es nicht ausreicht, die Haushalte der Kommunen durch eine „gerechtere Verteilung“ aufzustocken oder bessere Wohlfahrtsstaatsmechanismen einzurichten. Vielmehr muss den Mechanismen der Verwertungslogik, die dahinterstecken (und die ein Leben aller in Würde verunmöglichen), entschieden entgegengetreten werden. Ein Bruch mit der Systemlogik ist daher zwingend erforderlich. Dafür müssen die Ressourcen gleichmäßig und nachhaltig für die Menschen verfügbar sein, die sie benötigen – was nichts anderes als eine von Grund auf andere Verteilung der Güter bedeutet.
Daneben braucht es Organisierung, um Prekarität durch eine gesellschaftliche soziale Absicherung zu überwinden. Zu hinterfragen ist auch die Verteilung von viel Arbeit auf einige wenige statt einer gleichmäßigeren Aufteilung der zu leistenden Aufgaben auf viele. Dafür muss Arbeit selbstbestimmt und nachhaltig organisiert werden, wobei einzufordern wäre, dass jede_r den eigenen Fähigkeiten und den eigenen Bedürfnissen entsprechend handeln kann.
Es gibt heute schon weltweit zahlreiche Beispiele selbstverwalteter Betriebe. Entfremdung, Spaltung und Vereinzelung können nur durch gemeinsame Organisierung durchbrochen werden. Eine Umorganisierung der Arbeitswelt bedeutet gleichzeitig auch eine Neustrukturierung der Lebenswelt. Stereotype Geschlechterrollen müssen aufgebrochen und Reproduktionsarbeiten als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Allgemein muss der vorherrschende Arbeitsethos und Arbeitsbegriff in Frage gestellt werden. Das bedeutet auch, den angeblich sozialpartnerschaftlichen Frieden nicht länger hinzunehmen. Denn dieser und der DGB haben Altersarmut, Rente mit 67, Agenda 2010 und Prekarisierung nicht einmal im Ansatz verhindern können.
Vielmehr zeigt sich, dass ein profitorientiertes Arbeiten für den Reichtum anderer die Arbeitenden nur zu einem weiteren Kostenfaktor macht, sie zu einer austauschbaren Masse degradiert, über die nach ökonomischen Gesichtspunkten entschieden wird. Wir wollen dagegen ein solidarisches Leben und das bedeutet, sich gegen die Verwertungslogik zu organisieren und den falschen Frieden zu beenden. Unversöhnlich im Alltag gegen die kapitalistische Verwertung und Ordnung unseres Lebens zu sein, bedeutet den ersten Schritt zu gehen gegen die Unsicherheit und die permanente Ausbeutung. Dafür müssen wir zusammenkommen und uns über neue Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens austauschen.